Montag, 6. Juni 2016

Romanauszug: Die Tage in Dänemark

»Der Löffel in seiner rechten Hand rührte langsam, aber mit stetem Tempo auf dem Grund der Tasse. Sein Blick verweilte mit archaischer Ruhe auf dem Schaum des Milchkaffes, der gehorsam dem Rotieren des kleinen Löffels folgte. Leon saß an einem kleinen Tisch, direkt am Fenster im ersten Stock des Cafés »Kloster Torvet» inmitten von Aalborg. Die viereckigen, kleinen, mit gläsernen Stellflächen abgedeckten Tische um ihn herum waren bevölkert von jungen Menschen, die sich über ihr Studium unterhielten, den neuesten Klatsch verbreiteten und sich einfach nur des Lebens freuten. Das zumindest vermutete Leon, denn er verstand so gut wie kein Wort von dem, was an den Tischen gesprochen wurde. Leon interpretierte nur, denn er sah ringsherum in lächelnde Gesichter. Er liebte dieses Land und diese Sprache ohne Dänisch zu verstehen. Bis auf vier, fünf Sätze konnte er diese Sprache, die für ihn so faszinierend klang, nicht sprechen. Und immer wieder dann, wenn er dieses Land im Norden besuchte, erinnerte er sich an den ersten und bislang einzigen zusammengehörigen Satz, den er gelernt hatte. Ein Satz, der die Wichtigkeit des gesamten Lebens ausdrückte: »Jeg elsker dig«, »ich liebe Dich«. Was mehr als dieser herrlicher Satz war noch notwendig, um das Wichtigste auszudrücken, das es im Leben gibt? Was mehr als dieser Ausdruck des Weltumspannenden, in allen Sprachen Wiederkehrenden? Brauchte es mehr, als diese eindeutige, unverwechselbare Bekundung einer Zuneigung gegenüber einer anderen oder einem anderen? Leon lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schloss für Sekunden die Augen und sprach ganz leise vor sich hin: »Jeg elsker dig.«  Er war indes nie in die Versuchung gelangt, diesen Satz einer dänischen Frau gegenüber auszusprechen. Doch schon die Gewissheit, es aussprechen zu können, wenn denn die Gelegenheit sich ergäbe, stimmte ihn zufrieden. Leon öffnete seine Augen wieder und sah sich sofort inmitten der Realität. Er  beobachtete, wie der stürmische Wind die gelb schillernden Blätter der Ahornbäume auf den gepflasterten Boden des Vorplatzes schleuderte. Für einen Beobachter wie Leon war das Treiben des Windes ein beeindruckendes Szenario.«

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